Die prononcierte (konstruierte) Ferne der Eurokratur

Vor einigen Tagen schrieb ich halb belustigt, halb bestürzt über die nicht nur den medialen und politischen Diskurs bestimmende, sondern auch für die Berichterstattung zunehmend charakteristische Unwissenheit in europapolitischen Fragen, welche einem Gutteil der Stimmen und Beiträge darin unterliegt und zu hanebüchenen Verwechslungen auch in „Qualitätsmedien“ führt.

Um jene Unkenntnis einzubergen, bedienen sich nicht nur Politiker und Stammtisch Stereotypen und nonchalanter Gleichgültigkeit in der Zuschreibung allen Übels und aller Petitessen ans ferne Brüssel, dessen Kompetenzen bestenfalls inkompetent gescholten werden, wenn nicht verschwörungstheoretisch aufgeladen, sondern auch die Medien konstruieren in Europa das Fremde und Andere, das es abzuwehren oder zu vereinnahmen gilt, bevor es nationale Eigenständigkeit und Eigenheit überwältige, welches gleichwohl aber an Ort und Stelle stets dazu dient, europapolitisches Unbehagen und nationale Zankäpfel bequem mit Verweis auf eine aufgeblähte Straßburger Bürokratie abzuladen.

Und wie um die in jenem Blogartikel angeführte (zuweilen ostentativ) prononcierte Fremdheit der europäischen Institutionen in den deutschen Medien zu belegen, sind zeitnah in den letzten Tagen in zwei führenden Blättern Deutschlands Meinungsbeiträge erschienen, welche in dieselbe Kerbe schlagen:

So spricht Thomas E. Schmidt in seiner Kritik am europäischen Projekt von „geradezu furchterregende[n] Tätigkeitsnachweise[n]“ der „Brüssler Gesetzesmaschine“, worin nur „ein kleiner Kreis [von] Regierungschefs (manchmal treten Finanzminister, Staatssekretäre und Berater hinzu) und einer Handvoll Eurokraten“ „europapolitisch[e] Fakten schaff[e]“. Wenngleich die Utopie vom geeinten Europa nicht gleich gescheitert sei, so blieben die Differenzen innerhalb Europas erhalten oder weiteten sich gar aus wie jene zwischen Peripherie und Zentrum im Laufe der Finanzkrise, und es sei an der Zeit, auch „über das Nichtintegrierbare, die absoluten Grenzen der Angleichung“ zu sprechen.

Und obschon er diesem Negativbefund nicht sekundiert, so attestiert auch Nikolas Busse dem „Elitenprojekt“ EU, daß es, obschon in „Brüssel den Bürgern weiterhin fremd und fern“, in seinem Drang nach Erweiterung der Zuständigkeiten einen Umgangston pflege, der „etwas Paternalistisches“ habe: „Wir schmieden das Glück des europäischen Bürgers, notfalls auch gegen seinen Willen – so lautet der unausgesprochene Komment der Europapolitik.“ Die politische Kultur der Europäischen Union sei gekennzeichnet von einer „tiefsitzenden Verwaltungsmentalität“; „Geheimniskrämerei und die diplomatische Sprache, mit der die Kompromisse des [Europäischen] Rats verbrämt und verschleiert werden“ beförderten weiter die Ferne zur Lebenswirklichkeit der europäischen Bürger.

Kräftige Schützenhilfe habe diese Brüsseler Gewalt nun auch inmitten der Eurokrise von der Regierung Merkel erhalten in der Ausweitung der Kontrollrechte der EU mit Blick auf staatliche Haushalte und Finanzen, womit, als deren Spiegel, eine vielleicht unfreiwillige und unabsichtliche, jedfalls dauerhafte Selbstbeschneidung nationalstaatlicher Kompetenzen einhergehe und eine Schwächung nationaler Souveränität. Hier aber, so Busse, drohe nun der endgültige Verlust demokratischer Legitimation Europas: „[W]enn die Politik nicht mehr dafür tut, daß das Brüsseler Geschehen zugänglicher wird, dann behält sie vielleicht die Währung, verliert aber die Völker.“

Und was ist ferner, als ein Europa ohne Völker? Ein „Brüsselkuckucksheim“, eine Vision ohne Rückhalt, eine Praxis ohne Bodenhaftung, ein Projekt ohne Rückbindung an und Verwurzelung in einer gemeinsamen europäischen Identität. Jene Identität aber kann nicht das ewige Andere sein, als welches Medien, Bürger und Politiker Europa so gerne darstellen – und zum eigenen Vorteil auch machen. Unwissen behüt!

Category: Miscellaneous | Tags: , , , , , | estienne210 Comment »


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