Vor dem Geländer der Haltestelle, ein wenig abseits von den übrigen Fahrgästen, ein junger Mann, Anfang zwanzig, breitschultrig, ein wenig gedrungen, mit müdem Blick. Ich folge den Gleisen, lasse den Einkaufsbeutel rechter Hand schlenkern, die Trageriemen überkreuz über den Handrücken geführt, Fix- und Wiegepunkt. Frischer Blattsalat, der im Rhythmus der Schritte auf und ab wippt, Brot und Schinken, Feinkost für den sonntäglichen Brunch; ich trete auf die Halteinsel und gehe voran bis zur Stahlstrebe mit der elektronische Anzeigetafel, darauf aufgeführt: die nächsten beiden Fahrten, die M4 heimwärts, noch vier Minuten Zeit.
Die M5 Richtung Zingster Straße gleitet aus dem Halteport, taucht nach links ein unter den S-Bahnbogen, schwindet aus dem Sichtfeld. Mein Blick streift nach rechts, en passant, ich mustere ihn flüchtig. Trittfeste Stiefel, festgeschnürt, eine Hose in 3-Farb-Tarndruck, sandfarben, Wüstentarn, ein beiges T-Shirt als Teil des Feldanzugs, auf dem Rücken ein wuchtiger, camouflierter Armeerucksack, Flecktarn, schwer. An dieser Station kommen die Straßenbahnen erst am vorderen Ende der Bucht zum Stillstand, beim Wartehäuschen, ein schmuckloser Glasunterstand mit Sitzbank, Werbeträger, bebildert, davor eine Menschentraube. Das übliche, unbekümmerte Gewusel aus Erledigungen, Stadtbummel, Nachtschwärmern, die nach langer Tour der Schlaf ins heimische Bett treibt, ein früher Samstagnachmittag.
Die Haare sind ordentlich, kurz, schmutzigblond, Ohren und Nacken frei, eine Andeutung von Scheitel. Das Gesicht kantig, glatt rasiert, ein wenig derb; Brust und Kinn sind vorgeschoben, der Rücken durchgestreckt; die Augen niedergeschlagen. Wer am rückwärtigen Ende der Haltestelle wartet, der muß, wenn die Bahn einfährt und die Türen sich öffnen, aufschließen bis hin zum letzten Einstieg, anstehen, erneut warten. Limbus, Kunduz. Auf den Hemdsärmeln die deutschen Farben, das grüne Abzeichen vom ISAF-Einsatz in Afghanistan auf der Brust, Komak aw Hamkāri. Er tut einige unschlüssige Schritte vor und zurück, vielleicht sind die Beine ihm schwer.
Ich halte inne, besinne mich, kehre um und sage: Willkommen zurück. Wir nicken einander zu, seine Stimme klingt müde in dem hellen Einkaufssonnenschein, leise, Berlin-Mitte im Spätsommer 2013. Noch zwei Minuten ist die M4 fern, ich laufe wieder vor. Hintergrundgeplauder, links, rechts, ein einziges Sirren, Limbo; die Kleiderordnung hat sich im Gefolge der Temperaturen der letzten Wochen bis ins Zwanglose gelockert, die Menschen kreisen um sich und in sich, er bleibt für sich. Als die M4 einfährt, kommt er auf mich zu und sagt fast ins Unbestimmte: Danke. Ich sei einer der wenigen, die ihn willkommen heißen.
Ich steige ein und denke nur, auf dem Heimweg:
Sollte nicht ich, sollten nicht wir dankbar sein in diesem unserem Land?