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Rainer Stephan: Gebrauchsanweisung für das Elsaß
Piper Verlag, München 2004
2. Auflage 2007

beg, bee: 05.03.2009, 08.03.2009

Elsaß-Lothringen, das ist ein Fokalpunkt europäischer Geschichte, deutsch-französischer Erbfeindschaft und Nachkriegsfreundschaft, das Elsaß eine Region, die die Kultur des Savoir-vivre mit deutscher Gemütlich- und Bodenständigkeit fruchtbar amalgamiert, ein „Dreyeckland“ zwischen Basel, Freiburg und Straßburg, das seine Eigenständigkeit gegenüber dem nachbarschaftlichen Übergewicht der „Schwoben“ einerseits und Pariser Zentralismus andererseits behauptet und gewahrt hat. Pfleglich gehegte Provinzialität erwies sich als Keimzelle, gelebte Interkulturalität (stets zwischen allen Stühlen) als Ausdruck wenn nicht ausgesprochen pro-, so doch paneuropäischer Gesinnung, ein Regionalismus mit unverwechselbaren Zügen charmanter Renitenz.

Rainer Stephans über weite Strecken vergnüglich abgefaßte Gebrauchsanweisung, erschienen in Pipers reizvoller Reihe literarischer Regionalportraits abseits von Reiseführern und Urlaubsplanern, eröffnet dem Leser ein humorvolles Elsaßpanorama mit kulinarischen Reflexionen über saures choucroûte royal (das in Ungarn besser schmeckt) und erklecklicher Sommelier- und Gourmetkunde (wie ein bunter Hund scheint er bekannt mit allerorten Dreisterneköchen): so firmiert der Pinot Gris im Elsässischen unter „Grauclevner“ (und wurde als Tokai d’Alsace vor dreihundert Jahren aus Ungarn importiert), mit einer Entourage seitab touristischer Routen und Urlaubsnepp und erquicklichen Einsichten in das schwierige Verhältnis des Elsässers zum Deutschen. Darin spart er nicht mit Sticheleien gegen Anrainer beiderseits des Rheins.

Matthias Grünewalds „Isenheimer Altar“, der Pfifferdaj, der alljährlich in Ribeauvillé an die Gerichtsbarkeit und Steuerhoheit der deutschen Grafen von Rappoltstein im damaligen Rappoltsweiler über Gaukler und fahrende Spielleute erinnert, der Sechseimerbrunnen, das Obertor und die Künstlerkolonie von Boersch – in Stephans Buch gibt es für den deutschen Leser viel zu entdecken über das Elsaß, wie z.B. die von Adalbert von Chamisso noch besungene Burg Niedeck oder ein zur Waldwirtschaft umfunktioniertes altes Forsthaus im Elmerforst und auch einen ostwärts (gen Deutschland: als Mahnung?) gerichteten Panzer in Kientzheim. Straßburg, die alte freie Reichsstadt, Präfektur (nebst Colmar) der Départements Haut-Rhin und Bas-Rhin (die zusammen die in der französischen politischen Terminologie ausgesparte Region Elsaß bilden), behandelt der Autor facettenreich und erschöpfend – und doch wird der Leser angehalten, weiter nachzuforschen.

Der Zusammenhang zwischen Straßburgs malerischem, von der Vaubanwehr eingefaßten Gerberviertel Petite France und der Syphilis, beispielsweise, findet sich nicht im Buch. Dazu schwingt im Autoren vielleicht zuviel Lokalpatriotismus mit. Die Sprache Stephans ist kurzweilig, die Kapitelübergänge beredt, und auch wenn ein großer Erzählbogen ausbleibt, sind die Exkursionen, Hakenschläge und Detours in diesem anregenden Kultur- und Historienreigen lehrreich und bildhaft, ohne das Gris en gris des modernen Elsaß und seiner Vorstädte in Mulhouse (Mühlhausen), Straßburg und Schlettstadt (Sélestat) – und damit Frankreichs – zu verschweigen. „[D]ie altmodische Kunst des Bücherlesens läßt einen auch heute noch persönliche Abenteuer erleben, die andere nur aus dem Kino kennen“ (S. 107), so resümiert Stephan die phantastische Begebenheit um Stanislas Gosse, dem Arsène Lupin d’Alsace, und er läßt den Leser teilhaben an filmreifer, bibliophil motivierter Kleptomanie, wie sie vielleicht nur noch im Elsaß zu finden ist.

191 Seiten, Broschur
dt.-sprachig
Reiseliteratur, Region Alsace-Lorraine, Frankreich

Category: Libri L | Tags: , , , | estienne210 Comment »


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